Soziale Bewegungen verändern sich -
Aufgaben und Perspektiven für die Werkstatt für Gewaltfreie Aktion Baden
von Jochen Stay
Ich habe in der letzten Zeit in mehreren Artikeln und Vorträgen den Begriff
der "Generation attac" benutzt und ich möchte auch hier noch einmal
erläutern, was ich damit meine. Wir erleben ja in den letzten Jahren so
etwas, wie die Renaissance der Protestbewegungen: Proteste gegen den
Irak-Krieg, die globalisierungskritische Bewegung, den anhaltenden
Widerstand gegen Castor-Transporte und die Demos gegen den Sozialabbau, um
nur einmal einige Beispiele zu nennen. Noch nie - vielleicht mit Ausnahme
der Zeit der Friedensbewegung Anfang der 80er - haben in der Bundesrepublik
so viele Menschen an mindestens einer Demonstration teilgenommen, wie in den
letzten Jahren.
Getragen werden diese Proteste im Wesentlichen von dieser "Generation
attac", die ich gar nicht mit den Mitgliedern der Organisation gleichsetzen
möchte. Was zeichnet diese "Generation attac" besonders aus und was
unterscheidet sie damit von früheren Protestgenerationen?
Die "Generation attac" besteht einerseits aus vielen jungen Menschen, aber
auch aus erstaunlich vielen Älteren, die nach Jahren der Resignation neu
aktiv geworden sind - übrigens im Osten wie im Westen der Republik.
Die "Generation attac" wendet sich gegen Krieg, Umweltzerstörung, globale
Unge-rechtigkeit und Sozialabbau. Sie ist immer dort aktiv, wo es gerade am
Nötigsten ist. Die Zeit der Ein-Punkt-Bewegungen ist vorbei, zwar vielleicht
noch nicht bei den Hauptamtlichen in den NGOs, aber auf jeden Fall an der
aktiven Basis der Bewegungen.
Die "Generation attac" hat es so leicht wie keine vor ihr. Denn noch nie war
die Teil-nahme an einer Protestveranstaltung so normal wie heute. War das
Demonstrieren in der "alten" Bundesrepublik noch ein Ausdruck von
Gegenkultur zum herrschenden Mainstream und führte vielerorts zu heftigen
Familienkonflikten, so werden heute viele Jugendliche von ihren Eltern
geradezu ermuntert, auf die Straße zu gehen. Und es macht sich bemerkbar,
dass es zumindest im Westen inzwischen in jeder Alterstufe unzählige
Menschen gibt, für die das Mitstreiten in einer der zahlreichen
Protestbewegungen seit den 50er Jahren Teil ihrer Biographie ist und für die
es deshalb in bestimmten zugespitzten politischen Situationen gar kein so
großer Schritt ist, erneut auf die Straße zu gehen. Ein zusätzlicher Vorteil
kann es manchmal sogar sein, dass inzwischen ja viele Ex-Bewegte an
Schlüsselstellen der Gesellschaft sitzen, beispielsweise in
Zeitungsredaktionen, Behörden oder Gerichten.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Natürlich ist mir bewusst, dass es
immer noch eine Minderheit ist, die sich an Protesten beteiligt und die
gesellschaftliche Mehrheit sich machtlos wähnt, aber die politisch aktive
Minderheit ist in letzter Zeit eher gewachsen.
Die "Generation attac" hat die Trennung von den vormals wichtigen
MitstreiterInnen aus der grünen Partei gut verdaut. Längst wurde aus dem
Jammern über grünes Umfallen in der Militär-, Atom- oder Sozialpolitik ein
neues Selbstbewusstsein. In vielen Politikfeldern sind die Aktionsgruppen,
Initiativen und NGOs wieder zu einer Art außerparlamentarischen Opposition
geworden. Sie sind dabei zu lernen, wie sich politische Erfolge erzielen
lassen, spielen immer öfter professionell auf der Klaviatur zwischen
Lobbying, Massenprotest und Zivilem Ungehorsam.
Die "Generation attac" hat eine deutlich niedrigere Hemmschwelle, wenn es um
Ak-tionen Zivilen Ungehorsams geht. Zum einen liegt dies an den in den
letzten Jahr-zehnten erkämpften Freiräumen, beispielsweise in der Frage der
Strafbarkeit von Sitzblockladen, andererseits nimmt mensch es heute
moralisch einfach nicht mehr so genau. Kaum eine Gruppe beschäftigt sich
beispielsweise vor ihrer Aktion noch mit der Frage, ob denn auch schon alle
legalen Mittel zur Durchsetzung des Ziels ausgeschöpft sind - streng
genommen eine notwendige Vorraussetzung, wenn mensch "nach Lehrbuch"
vorgeht. Aber Ungehorsam ist medienwirksam und wird deshalb oft und gerne
eingesetzt.
Wunderbare Zeiten also? Nur bedingt. Ich will hier nicht verschweigen, dass
die Veränderungen der letzten Jahre auch Schwierigkeiten mit sich bringen.
Dass die Teilnahme an einer Demo inzwischen nicht mehr Ausdruck eines
gegen-kulturellen Modells ist, sondern weitgehend ein Teil des
gesellschaftlichen Main-streams geworden ist, nimmt dem Protest natürlich
auch einen Teil seiner Wirkung. Wer nicht mehr provoziert und wer das System
nicht mehr grundlegend in Frage stellt, wird auch in der Öffentlichkeit
weniger wahrgenommen.
Das Absterben des typischen alternativen Milieus, aus dem große Teile der
Bewe-gungen in den 70er und 80er Jahren erwuchsen, nimmt dem Protest von
heute auch eine gewisse Tiefenschärfe. Es ist eben nicht mehr so, dass
diejenigen, die demonstrieren sich auch biologisch ernähren, in
Wohngemeinschaften wohnen und mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren. Nicht nur
ein Teil ihrer AkteurInnen, sondern auch ein Teil der Kultur der Bewegungen
haben sich auf den Weg durch die Institutionen gemacht und sind dabei fast
bis zur Unkenntlichkeit verändert worden.
Die vorhin schon genannte Besetzung von Schlüsselpositionen der Gesellschaft
mit Ex-Bewegten kann natürlich auch Nachteile mit sich bringen,
beispielsweise wenn sich diese besonders bemühen, sich von ihrer
Vergangenheit abzugrenzen oder auch nur, wenn sie die politischen Taktiken
von Protestbewegungen so gut kennen, dass sie es einfacher haben, diese
auszuhebeln.
Die inhaltliche Flexibilität der "Generation attac", gestern gegen den
Irakkrieg, heute gegen ungerechte Globalisierung und morgen gegen den
Sozialabbau, hat auch zur Folge, dass es einerseits zwar so viele
Demonstrationen und DemonstrantInnen wie selten gibt, aber ein Bewegungshype
so schnell wieder verflachen kann, wie er entstanden ist. Während sich
Medien und OrganisatorInnen noch über die Stärke des Protestes freuen, ist
die Karawane längst zum nächsten Thema weitergezogen.
Die heutige Protestgeneration hat etwas von den Bildschrimkids, die sich
durch die Fernsehprogramme zappen oder durchs Internet surfen. Die
Strukturen sind deutlich unverbindlicher als noch vor zehn oder 20 Jahren.
Den RekordteilnehmerInnenzahlen bei Demos und Aktionen stehen teilweise
schwache organisatorische Kerne vor Ort gegenüber. Wie viele aktive lokale
Friedensinitiativen gibt es eineinhalb Jahre nach der größten Demo in der
Geschichte der Bundesrepublik? Erschreckend wenig. Und auch die Zahl der
halbwegs vorbereiteten Bezugsgruppen, die sich an den Blockaden der
Castor-Transporte beteiligen, nimmt stetig ab, obwohl sich seit einem
Tiefpunkt im Herbst 2001 jedes Jahr mehr Menschen auf die Straße vor
Gorleben setzen.
Die Sprunghaftigkeit und Unverbindlichkeit macht sich nicht nur an den
Protestinhalten fest, sondern auch an den Formen. Wer sich einmal an einer
Aktion Zivilen Ungehorsams beteiligt, wird deshalb nicht gleich zur
gewaltfreien Aktivistin, die auch in den kommenden Jahren politische
Gegenmacht auf diese Weise organisiert.
Verstärkt wird der Zapping-Effekt noch durch die massenmediale Wahrnehmung
der Proteste. Hatten es die Bewegungen in den 60ern, 70ern und 80ern noch
mit einem weitgehend feindlichen Medienumfeld zu tun, so wird heute oft auch
wohlwollend berichtet. Allerdings führt dies zu zwei problematischen
Effekten:
1. Die Darstellung in den Medien erinnert inzwischen oft an
Sportberichterstattung. Höher, schneller, weiter ist die Devise. Werden neue
Rekorde aufgestellt, berichten die JournalistInnen in epischer Breite. Doch
gibt es keine neuen Bestleistungen, dann fehlt dem Protest der
Neuigkeitswert und er geht im medialen Grundrauschen unter. Nach 17 Stunden
Castor-Blockade durch die vier im Betonblock angeketteten AktivistInnen von
Robin Wood im Frühjahr 2001 war jede Aktion danach nicht mehr interessant,
weil sie den Atommüllzug weniger lange aufgehalten hat. Nach einer halben
Million DemonstrantInnen am 15. Februar 2003 in Berlin hatten die weiteren
Aktionen und Demonstrationen gegen den Irak-Krieg kaum noch eine Chance,
adäquat wahrgenommen zu werden. Obwohl noch wochenlang jedes Wochenende
hunderttausende auf die Straße gingen, war dies den Zeitungen nur noch
zweispaltige Artikel auf Seite 5 wert. Wer heute mit einem riesigen
Transparent ein Gebäude erklettert, kann sich schon glücklich schätzen, wenn
ein Foto in der regionalen Presse erscheint.
2. Seit einigen Jahren gibt es auch Proteste, die praktisch von den Medien
erst ge-macht werden. Da passt irgendein Thema gerade ins redaktionelle
Konzept und wird hochgepuscht. Sogar teilweise aus Pressekreisen initiiert
wurden Anfang der 90er die Lichterketten gegen rassistische Gewalt. Die
Greenpeace-Aktion gegen die Versenkung der Ölplattform Brent Spar war vor
allem deshalb so erfolgreich, weil die Medien im Sommer 1995 gerade kein
anderes Thema hatten und dieses mächtig spannend fanden. Es gab dann sogar
eine Nachfolgekampagne gegen die französischen Atomtests auf Mururoa, zu der
manche Zeitungsredaktionen mit eigenen Protestbooten aufbrachen. Die
nächsten Greenpeace-Aktionen waren dann wieder out, weil es den LeserInnen
sonst langweilig geworden wäre.
Der Widerstand gegen den ersten rot-grünen Castor-Transport nach Gorleben im
März 2001 wurde mehrere Tage praktisch live und rund um die Uhr auf diversen
Sendern übertragen. Das lag aber nicht in erster Linie am genialen Konzept
der Proteste, sondern daran, dass alle JournalistInnen die Geschichte von
der dem Konflikt grüne Regierung ehemalige grüne Basis so spannend fanden
und sich außerdem Bürgerkriegsbilder erhofften - die sie nicht bekamen.
Auch die Dynamik der aktuellen Montagsdemos gegen Hartz IV hat eine starke
me-diale Komponente. Presse und Fernsehen haben sich wie eine ausgehungerte
Meute auf die erste kleine Magdeburger Montagsdemo gestürzt. Und nur durch
diese breite Berichterstattung bekam die Idee so schnell so großen Zulauf,
wurde dann aber auch wieder von den Medien massiv runtergeschrieben, als die
Sache begann, sich immer mehr auszuweiten.
Es geht hier meist nicht um politische Inhalte, sondern um die Gesetze des
Medien-marktes und die spielen inzwischen leider die weitaus größere Rolle,
bei der Frage, welchen Platz welche unserer Aktionen in der
Berichterstattung einnimmt. Es erinnert mich manchmal an die in/out-Listen
auf den Vermischtes-Seiten der Zeitungen. Da kann dann die beste
Pressearbeit kaum noch etwas nutzen und es bleibt letztendlich fast dem
Zufall überlassen, ob ein Thema einschlägt oder nicht und wie lange es auf
der Agenda bleibt.
Soweit mein Blick auf die aktuellen und veränderten Rahmenbedingungen von
Pro-testbewegungen. Meine Aufzählung ist natürlich nicht vollständig, nicht
unstrittig und auf keinen Fall wissenschaftlich, sondern einfach meiner
subjektiven Wahrnehmung entsprungen. Stellt sich nun die Frage, was das
alles für die Werkstatt für Gewaltfreie Aktion bedeutet. Dazu muss ich, ich
hoffe ihr verzeiht mir dies, ein wenig biographisch ausholen.
Eine meiner politischen Wurzeln liegt in Mutlangen. In den 80ern war ich
einige Jahre Teil der Dauerpräsenz in der so genannten Pressehütte am
Stationierungsort der Pershing-II-Atomraketen. Vor zwei Jahren habe ich auf
einer Tagung in Schwäbisch Gmünd von heutiger Warte aus auf meine Mutlanger
Zeit zurückgeblickt und ich will heute einen Abschnitt meiner damaligen Rede
zitieren, weil er für das Verständnis dessen, was ich noch sagen werde,
nicht unwichtig ist - auch wenn es vielleicht ein bisschen pathetisch
daherkommt:
"Ich habe damals sehr viel aus Mutlangen mitgenommen, hatte unendlich viel
gelernt über Zivilen Ungehorsam, über Macht und Gegenmacht von unten, über
politische Abläufe, aktive Auseinandersetzung mit der Justiz, das Schaffen
von Öffentlichkeit und das Planen effektiver Aktionen. Mutlangen war damals
Symbol für vieles, unter anderem war es für eine ganze Generation eine
phantastische politische Lehranstalt, immer unter dem Motto "learning by
doing".
Ich kam direkt nach dem Abitur nach Mutlangen. Und als ich einige Jahre
später von dort wegging, da hatte ich mich entschieden: Widerstand gegen
menschenverachtende Politik sollte im Mittelpunkt meines Lebens stehen.
"Unser Mut wird langen" war ein wichtiges Motto der damaligen Zeit. Heute
kann ich sagen: Der Mut, den ich in Mutlangen gewonnen habe, der Mut sich
immer wieder einzumischen und niemals aufzugeben, der Mut auch schwierige
und scheinbar hoffnungslose Auseinandersetzungen aufzunehmen, dieser in
Mutlangen gewonnene Mut, der langt bei mir bis heute und ich glaube, er wird
mich mein ganzes Leben nicht mehr verlassen.
Wie viele andere auch habe ich vieles vom in Mutlangen Gelernten an anderen
Or-ten, in anderen politischen Konflikten immer wieder neu eingesetzt. Ich
gehöre zur Gruppe derjenigen, die sich nach ihrer Mutlanger Zeit vor allem
in der Anti-Atom-Bewegung für die Stilllegung der AKWs und gegen
Castor-Atommülltransporte engagiert haben. Ein Thema was ich mitgenommen
habe und was mich seither immer wieder sehr beschäftigt, ist die Frage, wie
es gelingen kann, einen politischen Konflikt durch massenhaften Zivilen
Ungehorsam aktiv zu beeinflussen. Meine Mutlanger Erfahrung: Wenn sich die
kleinen scheinbar ohnmächtigen Menschen zusammenschließen und sich wehren,
dann haben es die scheinbar Mächtigen unendlich schwer, ihre Pläne
umzusetzen."
Soweit das Zitat. Es geht mir also, aufgrund eigener Erfahrung, um Learning
by doing.
Es ist eigentlich ein Widerspruch oder eine Fehlbesetzung, dass ich hier
heute rede. Denn mensch kann mich sicherlich guten Gewissens als
Theoriefeind oder zumindest theoriefremd bezeichnen. An der Uni habe ich es
im Politikstudium nur zwei Semester ausgehalten und kluge politische
Standardwerke habe ich nie gelesen. Ihr habt Euch da heute einen eingeladen,
der in seiner ganzen politischen Biographie weitgehend auf die Angebote der
Werkstatt und ähnlicher Einrichtungen verzichtet hat. Ich habe
beispielsweise nie an einem Training für gewaltfreie Aktion teilgenommen,
sondern all das, was ich darüber gelernt habe, wie Protestbewegungen
funktionieren, und wie in ihrem Rahmen effektiv Politik zu machen ist, das
habe ich nicht aus Seminaren, sondern von der Straße oder aus der
praktischen Zusammenarbeit mit erfahrenen oder besonders begabten
AktivistInnen.
Ich will damit beileibe nicht sagen, dass es die Bildungs- und
Trainingsarbeit der Werkstatt gar nicht braucht. Ich glaube, dass es sehr
viele Menschen gibt, die durch die Anregung oder Unterstützung der Werkstatt
entscheidende Schritte in ihrer politischen Sozialisation gehen konnten. Und
eigentlich kann ich an Euch einen Großteil meiner Kritik, die ich an anderen
bewegungsnahen Bildungseinrichtungen habe, gar nicht richten. Denn ihr macht
vieles besser als die anderen.
In ihrer Wirkung gar nicht zu überschätzen ist die Kampagnen-AG der
Werkstatt. Hier wird meines Erachtens erstmals dafür gesorgt, dass
bestimmtes Knowhow nicht mit dem biographischen Ende der aktiven Zeit
mancher Leute verloren geht, sondern weiter und in konzentrierter und
aufgearbeiteter Form der Bewegung zur Verfügung steht. Die AG füllt
kompetent die Lücke zwischen Aktionstrainings, Gruppenberatung und
"Werkzeug"-Seminaren, beispielsweise zu Pressearbeit oder Fundraising.
Auch die Idee des Bewegungsarbeiters, wie ja die Stelle von Bernd Sahler
umschrieben wird, ist in ihrer Form neu und wegweisend. Dadurch, dass Bernd
die Freiheit hat, sich immer wieder aktuellen Bewegungen und Aktionen
anzuschließen und mit seinem Knowhow einzubringen, seid ihr schon viel näher
am Tagesgeschäft, als alle eure KollegInnen in anderen Einrichtungen.
Aber ich denke, es ist in Zukunft nötig, diesen eingeschlagenen Weg
konsequent weiterzugehen. Das für Erfolg oder Misserfolg von
Protestbewegungen oft entschei-dende so genannte "window of opportunity",
also der Zeitraum, in dem sich entscheidende politische Chancen auftun,
kommt immer plötzlicher. Bewegungszyklen werden aus den genannten Gründen
immer schneller und wir müssen versuchen, mit unseren Mitteln dazu
beizutragen, vorhandenes Wissen in aktuelle Auseinandersetzung aktiv
hineinzutragen und zwar punktgenau dann, wenn es darauf ankommt. Das geht
nicht mehr mit langfristig geplanten Seminarprogrammen oder mit
Werkstatt-MitarbeiterInnen, deren Terminkalender schon für mehrere Monate
ausgebucht ist, jedenfalls nicht nur.
Ich wünsche mir in den aktuellen Auseinandersetzungen eine noch größere
Beteili-gung von erfahrenen TrainerInnen, KampagnenplanerInnen,
BewegungsarbeiterIn-nen. Es ist manchmal erschreckend, wenn mensch sich
anschaut, auf wem die Last der Verantwortung für die Planung ganz
entscheidender Aktionen liegt, wie zum Beispiel jetzt wieder gegen den
anstehenden Castor-Transport nach Gorleben. In der Arbeitsgruppe von
X-tausendmal quer, die sich um Trainings, Bezugsgruppenbildung, Moderation
des SprecherInnenrats und Modelle der Entscheidungsfindung in einer
Großgruppe von über 1.000 Menschen kümmern soll, von denen sich nur eine
Minderheit in Bezugsgruppen organisieren will, sitzt eine erfahrene
Trainerin und ansonsten nur junge Leute, die noch nie in diesem Bereich
gearbeitet haben und jetzt noch kurz vor den Aktionen ein kurzes
TrainerInnen-Training mitmachen. Da fehlt einfach aktuelle Unterstützung von
erfahrenen Menschen.
Mir geht es hier heute gar nicht in erster Linie um die politische
Wirksamkeit, die mit dem Einsatz erfahrener Leute erhöht werden kann,
sondern um die Wirkung der Aktionen nach innen, auf die AktivistInnen
selbst, auf die Frage, ob die Leute nach der Aktion sagen, sie haben etwas
für ihre sonstige politische Praxis gelernt und sie werden das nächste mal
wieder kommen.
Und es fehlt nicht nur am Input, sondern auch am Output. In den acht Jahren,
seit es X-tausendmal quer gibt, wurde irre viel an Kampagnen- und
Großaktions-Knowhow erarbeitet, aber nur wenig davon wurde aktiv
ausgewertet, aufgearbeitet und zum Transfer vorbereitet.
Wer herausgefunden hat, wie groß dieser Anteil von politischer Bildung, von
gewalt-frei leben lernen ist, der nicht in Seminaren, sondern auf der Straße
stattfindet, der oder die muss über die Relation erschrecken, wie viele
kompetente Kräfte an Bildungsveranstaltungen und wie wenig erfahrene Kräfte
vor Ort an der Planung und Durchführung von Aktionen beteiligt sind.
Wie gesagt, diese ist keine Kritik an der Seminararbeit selbst, die ist
sicher wichtig und wertvoll und ich sehe die Werkstatt auch schon weit vorne
auf dem Weg hinein in die Aktions- und Kampagnenberatung. Aber der Bedarf
ist noch weit größer.
Ob hier das gerade entstehende und noch reichlich diffuse Berufsbild der
Bewe-gungsarbeiterInnen eine gute Antwort sein kann, muss sich in den
nächsten Jahren zeigen. Die Werkstatt geht mit Bernd Sahler ja den Weg des
in ein größeres Team eingebundenen aber trotzdem über gewisse Freiheiten
verfügenden Arbeiters. Ich selbst, als einer von derzeit sechs nicht von
aber über die Verdener Bewegungsstiftung finanzierte BewegungsarbeiterInnen
bin eher freischwebend und nicht an eine Institution angebunden. Das gibt
uns "Verdener BewegungsarbeiterInnen" eine noch größere Flexibilität, macht
uns aber anfälliger für alle Nachteile des EinzelkämpferInnentums, wenn wir
uns nicht selbst immer wieder um einen Teamzusammenhang kümmern.
Eine mögliche Weiterentwicklung der Bewegungsarbeit könnte die Mitarbeit
erfahre-ner Leute nicht nur als Moderatorin oder Trainerin bei einem
Wochenendseminar, sondern als mehrwöchiger Einsatz direkt bei einer
Initiative, einem Aktionsbündnis oder einer Kampagne sein, bei denen sich
die politische Auseinandersetzung gerade zuspitzt. Ein Beispiel dafür könnte
der Widerstand gegen das Bombodrom bei Wittstock sein, falls die Bundeswehr
den Übungsbetrieb aufnehmen will. Es geht dabei nicht darum, für die Leute
vor Ort die Arbeit zu schaffen, sondern dafür zu sorgen, dass die Aktiven
selbst ermächtigt werden, möglichst effektiv zu arbeiten.
Ich fände es reizvoll, wenn zur Reflektion und Weiterentwicklung des
Berufsbildes BewegungsarbeiterIn eine Zusammenarbeit zwischen Verden und
Baden entstehen kann.
Ähnliche Kooperation wünsche ich mir auch zwischen der Werkstatt und der
Bewe-gungsstiftung selbst in den von mir heute angestoßenen Fragen. In der
Stiftung wird darüber nachgedacht, wie bei plötzlich entstehenden "windows
of opportunity" sowohl mit kurzfristig bereitgestelltem Geld als auch mit
schneller fundierter Beratung ein entscheidender Beitrag für effektiven
Protest geleistet werden kann. Das Geld versuchen die Stifterinnen und
Stifter der Bewegungsstiftung selbst aufzutreiben, die Beratung muss sich
die Stiftung "zukaufen", beispielsweise bei Einrichtungen wie der Werkstatt.
Zu hoffen ist, dass die Werkstatt dann auch über genügend kurzfristig
abrufbare Kapazitäten verfügt, um entsprechende Beratung leisten zu können.
Vielleicht ist dies eine mögliche Fortsetzung der Entwicklung, die meines
Erachtens von der Werkstatt längst angefangen wurde: Neben die Bildungs-,
Trainings- und Moderationsarbeit tritt noch stärker die Beratung und mit den
BewegungsarbeiterInnen auch die eigene konkrete Mitwirkung an der Planung
und Umsetzung von Protest und Widerstand.
Damit die derzeitige Renaissance der Protestbewegungen kein Strohfeuer wird,
sondern dazu beiträgt, aktiv und gewaltfrei das Land zu verändern.
Mehr zur Werkstatt unter: http://www.wfga.de
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